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Einsame Seelen

Unsere Seelen bei Nacht
Kent Haruf
  • Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
  • Verlag: Diogenes
  • Auflage: 1 (22. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257069863
  • ISBN-13: 978-3257069860
  • Originaltitel: Our Souls at Night

Holt, eine Kleinstadt in Colorado. Eines Tages klingelt Addie, eine Witwe von 70 Jahren, bei ihrem Nachbarn Louis, der seit dem Tod seiner Frau ebenfalls allein lebt. Sie macht ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag: Ob er nicht ab und zu bei ihr übernachten möchte? Louis lässt sich darauf ein. Und so liegen sie Nacht für Nacht nebeneinander und erzählen sich ihre Leben. Doch ihre Beziehung weckt in dem Städtchen Argwohn und Missgunst.

MEINE REZENSION

Nach dem Klappentext hatte mich der Autor Kent Haruf bereits in seinen Fängen. So gern wollte ich erfahren, wie es mit Abbie und Louis weitergehen würden. Wird er sie des nachts besuchen? Werden sich ihre Seelen vereinen? Und wie reagieren die Nachbarn, Kleinstadtbewohner und Familienangehörigen auf das neue Paar im hohen Alter?

Abbie Moore ist Witwe und Mutter eines Sohnes namens Gene. Ihr Sohn schleppt ein schweres Päckchen mit sich herum, das nicht nur ihn belastet, sondern auch die Ehe mit Beverly und die Beziehung zu Jamie, seinem sechsjährigen Sohn. Eben jener Jamie spielt im Verlauf des Romans eine – unfreiwillige – Schlüsselrolle. Louis Waters ist ebenfalls verwitwet und hat eine Tochter Holly.

Die beiden alten Herrschaften beginnen eine Liaison, der ganz besonderen Art. Die Kurzbeschreibung verrät es. Nacht für Nacht liegen ihre Körper beieinander und ihre Seelen finden zueinander. Sie erzählen sich nicht nur ihr Leben, sie offenbaren auch alle Unzulänglichkeiten darin und verarbeiten dabei sicher das ein oder andere Trauma.

Zauberhaft finde ich den Mut und die Entschlossenheit der beiden, der Einsamkeit zu trotzen und sich aller Anfeindungen zu wehren. Dabei verhalten sie sich nie verletzend oder rechtfertigen sich für ihr Tun. Nein, sie stehen zueinander und geben sich so viel. Zwischendrin dachte ich oft, was für ein harmonisches Paar Abbie und Louis wohl abgegeben hätten, wären sie nicht mit Carl bzw. Diane verheiratet gewesen. Sie sehen im jeweils anderen die Fähigkeiten und Geheimnisse, erleben ganz Neues: Zelten, Nacktbaden im nahen Fluss. Zwei, die gegen den Strom schwimmen und versuchen, das Leben zu genießen – auf ihre ganz eigene Art.

Großes Interesse hatte ich selbstverständlich an den Reaktionen der Umwelt – und die gibt’s in allen Formen und Farben. Erstaunlich nur, dass der stärkste Gegenwind ihnen von den eigenen Kindern entgegenweht. Während Holly die neuen Umstände zwar nicht gutheißt, so toleriert sie die nächtlichen Ausflüge ihres Vaters doch immerhin. Ganz anders dagegen Gene. Er geht meiner Meinung nach zu weit. Näheres würde leider zu einem Spoiler führen. Und ich will ganz sicher diesem gelungenen Roman nicht den Spannungsbogen nehmen. Bis zuletzt war ich neugierig auf das Ende – ich hatte da so einige Ideen im Kopf. Doch schließlich kommt es anders, und zweitens als man denkt 🙂

Kurzum, die beiden wuchsen mir schnell ans Herz. Die Lektüre ist kurzweilig, regt zu vielen Gesprächen und Gedanken über das Älterwerden an, gibt Hoffnung und schürt Zweifel an der gesellschaftlichen Akzeptanz, bietet Modelle und Anregungen für den Umgang mit der Einsamkeit. Ich bin mir sicher, dass die Einsamkeit der Seele eines der größeren Probleme im Winter des Lebens ist und  damit Ursache für Krankheit und Verdruss. Früher waren die Großeltern Teil des familiären Systems und lernten zeitlebens von den Jungen – blieben immer frisch im Geist. Heute ziehen die Kinder und Enkel weit fort, zurück bleibt die Einsamkeit zunächst der Paare, dann der Hinterbliebenen. Sie lieben ihre gewohnte Umgebung, brauchen dringend Kontakte und eben auch Nähe.

Das Cover ist – wie immer bei Diogenes – sehr zurückhaltend. Eine gelbe Hauswand, ein Fenster. Kurze Kapitel eignen sich für den Lesegenuss zwischendurch. Die Sprache des mir bisher unbekannten Autors, Kent Haruf, ist geradlinig, fesselnd und doch so ganz anders. Kurze, prägnante Sätze, klare Aussagen, viele Dialoge – ohne ein einziges Anführungszeichen. Mal etwas Neues.

Unbedingt lesen!

“Wer hätte gedacht, dass wir in unserem Alter noch einmal so etwas erleben. Dass längst noch nicht alle Veränderungen und Aufregungen hinter uns liegen, wie sich herausstellt. Dass wir noch nicht körperlich und geistig vertrocknet sind.” S. 163

 

“Was soll das hier werden, Telefonsex?”  S.195

Published inKolumneRezensionen
et Claire